Findelkind jagt die Jägerin

von Oliver D. Bernuetz

Diese Geschichte ereignete sich vor langer, langer Zeit, als die Beeren von alleine in die Hände rollten und fette Gänse selber ins Feuer flogen. Ja, die Gänse gingen sogar soweit sich selbst zu füllen und zu würzen und auf dem Spieß zu drehen. Die folgenden Ereignisse beginnen mit dem Ende einer Großen Jagd. Findelkind kehrte gerade zum Versammlungsplatz zurück und war sehr zufrieden mit sich selbst. Er hatte ein Bebenbiest gejagt und getötet. Aber nicht nur irgendein Bebenbiest! Es war sogar ein Fleischfresser – und das waren die gefährlichsten. Man nannte es auch einen Großfresser. Findelkind war von je her ein fleißiger Jäger, der nie faul oder untätig war. Er hatte hart und lange gearbeitet, den Großfresser zu erlegen und schließlich war es ihm gelungen. Daher war er sehr zufrieden mit sich, als er zum Versammlungsplatz kam, um dort seine Beute mit denen der anderen Jäger zu vergleichen. Er nahm den Großfresser von seiner Schulter und legte ihn zur Schau neben die anderen Tiere beim Ehrenplatz. Einige der größten Jäger der Votanki waren versammelt und sogar Töchter der Wilden Mutter waren gekommen. Sie alle hatten ihre Beute ausgelegt. Findelkind verzog keine Miene und zeigte keine Regung mit seinem öffentlichen Gesicht, als er sich die Jagdtrophäen der anderen anschaute. Wie ihr ja wisst, besitzt jeder Mensch zwei Gesichter: das öffentliche und das verborgene, das man vor der Welt verborgen hält, um seine Geheimnisse nicht zu verraten. Auf dem Ehrenplatz waren Schlangennasen und Säbelzahnkatzen. Es war sogar ein pflanzenfressendes Bebenbiest dort zu sehen. Aber nichts, dass ihm seinen Rang streitig machen konnte. Findelkind war sich sicher auch diesmal wieder den Wettstreit zu gewinnen. So setzte er sich nieder und die Jäger fingen an Geschichten sich über die diesjährige Große Jagd, über die vergangenen Jahreszeiten und weiter zurückliegende Jagden auszutauschen.

Als sich nach einiger Zeit das Ende der Großen Jagd näherte, stand Findelkind langsam auf, reckte und strecke sich und knackte mit seinen Gelenken und sprach: „Nun, wie es aussieht, bin ich dieses Jahr der Meisterjäger.“ Er ließ absichtlich das Wort „wieder“ weg, doch sein verborgenes Gesicht leuchtete. Dem folgte ein wohlwollendes Gemurmel der anderen Jäger und Findelkind huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Doch dann sagte eine der Wilden Mütter: „Aber Naveera ist noch nicht zurück.“ Das Lächeln auf Findelkinds fror ein und er blickte in die Menge, die um das Lagerfeuer versammelt war. Wo war sie? War sie verunglückt? Unvorstellbar! Naveera war die erste unter den Wilden Müttern. Findelkind hatte sogar schon oft überlegt, ob Naveera ihm, wenn auch selbstverständlich niemals überlegen, so doch eventuell – und wirklich nur eventuell – ebenbürtig war. Möglicherweise war sie bei der Jagd einem Feind des Stammes begegnet, der sie aufhielt. Oder vielleicht hatte sie kein ausreichend großes Tier jagen können und schämte sich deswegen zum Versammlungsplatz zurückzukehren. Doch das sähe Naveera gar nicht ähnlich. Sie würde ihren Stolz nie über ihre Pflicht triumphieren lassen.

Findelkind zuckte mit den Achseln. „Nun, da es kein Zeichen von Naveera gibt, können wir schon mal mit der Zeremonie…“, begann er den Satz, unterbrach sich dann aber, da er ein Geräusch hörte. Es klang nach einem riesigen Tier, das durch den Busch auf das Feuer zugelaufen kam. Im Handumdrehen griffen alle Jäger nach ihren Waffen und machten sich bereit, um ihr Leben zu kämpfen. Alle Jäger waren auf der Lauer, vorbereitet jeden Moment zu reagieren. Dann brach eine riesige gepanzerte Schnauze durch den Busch. Die schiere Größe des Tiers ließ die Jäger einen Augenblick vor Schreck erstarren. Das Tier war gigantisch! Es war viel größer als der Großfresser, den Findelkind gefunden hatte. Plötzlich tauchte auch noch ein zweiter Kopf neben dem ersten auf. Die Jäger holten mit ihren Speerschleudern aus und begannen die Geister aus ihren Talismanen loszuschicken.

„Halt!“, rief da plötzlich eine der Wilden Mütter, „Die sind schon tot.“. Dann rief jemand: „Dort ist Naveera! Es war Naveera!“ Und so war es auch. Sie war genau rechtzeitig zurückgekehrt, um ein wahrhaft gigantisches Bebenbiest abzuliefern. Es war fast doppelt so groß wie das Tier von Findelkind, und nicht nur das – es besaß auch noch zwei Köpfe. Findelkind war sprachlos. War er besiegt? Er war besiegt! Schon ging ein Jubelschrei durch die Menge und ehe er sich versah wurde Naveera zur Meisterjägerin ausgerufen. Nachdem er sich gefangen hatte, stimmte Findelkind in den Jubel ein, und seine Rufe waren so laut wie die der anderen. Wer auch immer solch ein Monster erlegen konnte, verdiente es wahrhaftig Meisterjäger zu sein. Es war keine Schande zu verlieren.

Doch dann wurden drei Unverzeihliche ausgesprochen. Ihr wisst, was das bedeutet. Die erste Beleidigung sollte man verzeihen, die zweite Beleidigung kann man verzeihen, aber die dritte Beleidigung ist unverzeihlich. Die erste Beleidigung war dies: Viele Jäger erhoben ihre Stimmen und priesen diese Jagd als die größte aller Zeiten. Findelkind zuckte zusammen, als er das hörte. Die zweite Beleidigung war, dass mehrere Jäger riefen, dies sei der größte Fang, den jemals jemand gemacht habe. Findelkind wollte darauf schon etwas erwidern, doch er biss sich lieber auf die Zunge. Doch dann folgte die dritte Beleidigung als einige fragten: „Wie könnte jemals jemand ein größeres Tier erlegen?“

Dies war zu viel für Findelkind, und Zorn füllte seine Brust. „Die Größte? Wer war denn viel öfter Meisterjäger? Naveera oder ich?“. Die Jäger protestierten und sagten, dass Findelkind zwar am häufigsten Meisteräger gewesen sein, aber nie habe er ein so großes Monster erlegt. „Soll Naveera jetzt also die größte Jägerin sein?“. Nun ließ er sein geheimes Gesicht frei von der Leber sprechen: „Wenn Naveera angeblich die Größte ist, werde ich Euch trotzdem beweisen, dass ich noch größer bin als sie – wenn nämlich die Jägerin zur Gejagten wird.“ Stille fiel über den Versammlungsplatz. Noch nie hatte jemand eine der Töchter der Wilden Mütter gefangen. Sie wurden in der Vergangenheit schon verfolgt und auch im Kampf besiegt, aber noch nie hatte jemand eine gefangen.

Es war Naveera, die die Stille mit einem herzhaften Lachen durchbrach. „Ich würde nie Deine Fähigkeiten als Jäger in Frage stellen, Findelkind. Du bist wirklich gesegnet. Aber ich bin eine Tochter der Wilden Mutter und kein Mensch, Geist oder Gott hat mich oder wird mich je fangen.“
„Dann werde ich der Erste sein.“, antworte Findelkind. Niemand konnte fassen, was gerade geschah. Doch schnell wurden die Regeln aufgestellt. Findelkind würde seine Jagd am nächsten Tag beginnen, und Naveera schwor, dass sie das Land der Votanki nicht verlassen würde. Darüber hinaus war jede Taktik und jedes Werkzeug, dass nicht grundsätzlich verboten war, erlaubt.

Trotz seiner stolzen Worte war sich Findelkind nicht sicher, wie genau er Naveera fangen könnte. Die Töchter der Wilden Mutter waren schnellfüßig und schwer zu fassen, und Naveera war die Beste von ihnen. Es blieb ihm noch etwas Zeit einen Plan zu schmieden, doch obwohl seine Ehre von der Frage abhing, fiel ihm keine Idee ein, wie er Naveera fangen könnte. So wanderte er gedankenverloren und ziellos umher, bis er sich schließlich am Fuße der Großvater-Eiche hinsetzte, um weiter zu grübeln. Tief in Gedanken schlug plötzlich etwas gegen seinen Kopf. Er wurde aus seinen Gedanken entrissen und schnappte nach dem Ding, das gerade von seinem Kopf abgeprallt war. Es war eine Eichel. Findelkind blickte nach hoch und sah wie weiter oben jemand kopfüber am Stamm hing. Es war das Eichhörnchen, manchmal Freund, manchmal Nemesis.

„Was soll das, Eichhörnchen? Ich habe wichtigere Dinge zu tun, als mit Dir zu spielen.“, sagte er verärgert.
„Du meinst, wie zum Beispiel Naveera fangen?“
„Ah, davon hast Du also schon gehört. Was kümmert es Dich?“
„Ich kann Dir helfen sie zu fangen.“
Niemand, der auch nur einigermaßen Bescheid wusste, würde je die Hilfe des Eichhörnchens akzeptieren. Mit solchen Angeboten war stets ein Preis verbunden, und es passiert wahrhaft selten, dass Du das Geschäft im Nachhinein nicht bereust. Daher antwortete Findelkind vorsichtig, als er sprach: „Warum solltest Du mir helfen wollen? Was bringt Dir das?“
„Nichts.“
Das war keine glaubwürdige Antwort des Eichhörnchens. Deswegen schnauzte er: „Nichts? Wirklich rein gar nichts?“
„Naja, nichts außer meiner Rache.“
„Rache? Wofür?“

Eichhörnchen schaute ungewöhnlich schüchtern zu Seite. Da erst bemerkte Findelkind die Ledertasche auf dessen Rücken und konnte sich denken, was Eichhörnchen versuchte zu verbergen. „Hat sie etwas mit Deinem Schwanz gemacht?“
Eichhörnchen schnaubte wütend und warf die Tasche von seinem Rücken ab. Der Schwanz war völlig kahl und sah aus wie der nackte Schwanz einer Wasserratte. Findelkind unterdrückte ein Lachen, während Eichhörnchen seinen Schwanz wieder wütend zurück in die Ledertasche stopfte.
„Was hast Du angestellt?“, fragte Findelkind.
„Nichts! Wenn gewisse Leute nicht wollen, dass ihnen andere Leute beim Baden zuschauen, sollten sie das vorher sagen und einen nicht im Nachhinein jagen und dann jedes Schwanzhaar einzeln ausrupfen!“
Eichhörnchen schnaubte wieder verärgert und lief dann den Baumstamm nach unten, um etwas in Findelkinds Ohr zu flüstern. „Ich will Rache an Naveera und dafür werde ich Dir verraten, wie Du sie fangen kannst.“

Am nächsten Morgen stand Naveera noch vor der Dämmerung auf, um sich auf die Jagd vorzubereiten. Sie lag noch nackt in ihrem Nest und streckte sich langsam. Als nächstes drehte sie sich zur Seite und griff nach ihrem Schwanenmantel. Ihr müsst wissen, dass damals alle Töchter der Wilden Mutter Federn dieser großen Vögel trugen, die damals in unseren Wäldern lebten. Doch sobald sie ihren Mantel berührte, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Der Mantel war zu klein und zu leicht. Sie schwang den Mantel dennoch über die Schultern und stellte zu ihrem Schrecken fest, dass es kein Schwanenmantel war, sondern aus den Federn der Straucheltaube bestand.

Jeder von Euch kennt die Straucheltauben. Sie besitzen zwar auch weiße Federn, sie sind aber alles andere als Greifvögel. Sie haben ihren Namen von ihrer seltsam tollpatschigen Art zu fliegen. Sie schmecken zwar gut, aber kein Jäger würde auf die Idee kommen sie zu jagen, weil sie viel zu einfach zu fangen sind und keine Herausforderung darstellen. Nur einige der Alten und Gebrechlichen, die nicht mehr auf die Jagd gehen können, fangen Straucheltauben. Und auch Ihr Kinder habt vermutlich schon einige Tauben gefangen, als Euch die Erwachsenen beigebracht haben zu schleichen und zu jagen.

Ärgerlich warf Naveera den Mantel zu Boden. Jetzt würde sie sich nur auf ihre Waffen, ihre Schlauheit und ihre flinken Füße verlassen müssen. Sie griff nach ihren Waffen, nur um festzustellen, dass ihre echten Waffen, gegen Waffen aus Schilf ausgetauscht wurden, wie sie Kleinkinder benutzen, wenn sie Jäger spielen. Jetzt würde sie sich nur auf ihre Schlauheit und ihre flinken Füße verlassen müssen, dachte sie wütend. Sie ging bis zum Rand ihres Nestes und sprang mit aller Kraft los – und schlug mit dem Kopf hart gegen einen großen Ast. Als nach einer Weile die Sterne vor ihren Augen verschwunden waren, schüttelte sie ihren Kopf. Doch das war keine gute Idee, sofort fing es in ihren Ohren an zu pfeifen. „Wo kommt der Ast nur her?“, dachte sie, „Gestern war er noch nicht hier.“ Wie sie sich auch anstrengte, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Jetzt würde sie sich also nur auf ihre schnellen Füße verlassen müssen, kam ihr in den Sinn. „Ich kann Findelkind jederzeit davonlaufen.“ Sie sprang von ihrem Nest hinunter – und landete in einer tiefen Grube, die da am Abend zuvor auch noch nicht war. „Eichhörnchen!“, schrie Naveera. Sie versuchte aus der Grube heraus zu klettern, aber das Loch war zu groß und die Wände zu weich für jeglichen Versuch. So setzte sie sich auf den Boden und wartete auf Findelkind.

Nach einer ganzen Weile hörte sie Fußschritte. Sie schaute auf und sah Findelkind in Begleitung von Eichhörnchen, die auf sie herabblickten.
„Gibst Du auf?“, fragte Findelkind?
„Ich gebe auf.“, seufzte Naveera, „Aber ohne das missratene Eichhörnchen hättest Du mich nie geschnappt.“
Findelkind nickte zustimmend, während Eichhörnchen aufgeregt über seinen verunstalteten Schwanz meckerte. Als er jedoch Naveeras Blick bemerkte, überlegte er sich, dass er doch gerade dringend irgendwo anders sein musste.
„Gibst Du mir einen Vorsprung, bevor du sie herauslässt?“, fragte er Findelkind.
„Einverstanden.“

Findelkind setzte sich an den Rand der Grube und ließ seine Beine hinunter baumeln, bis er der Meinung war, dass Eichhörnchen weit genug weg war. Dann sah er Naveera an, die ihn die ganze Zeit ignoriert hatte.

„Wie Du zugeben musst, habe ich Dich – mit der Hilfe von Eichhörnchen – gefangen. Einige werden deswegen vielleicht sagen, ich hätte Dich nur durch Trickserei gefangen.“ Er machte eine Pause. „Und sie hätten Recht. Außer uns dreien, muss aber niemand davon erfahren. Lass uns jetzt also den richtigen Wettkampf beginnen.“ So sprach er und warf dann Naveera ihren Schwanenmantel und ihre Waffen in die Grube. Sie gab einen frohen Laut von sich und nur Augenblicke später stob eine geflügelte Gestalt empor und die wahre Jagd begann…


Hinweise